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Das Tal der Ahnungslosen

Das Tal der Ahnungslosen

In der DDR wurde man indoktriniert, in der BRD dagegen informiert — so dachten es jedenfalls viele Wessis. Heute zeichnen sich eher Ostdeutsche durch ein gesundes Misstrauen aus.

Wenn familiäre Erfahrungen zum offiziellen Bild passen

Bis etwa 1990 deckte sich vieles, was ich der Schule und in den Medien erfuhr, mit meiner persönlichen — und insbesondere familiären — Wahrnehmung und meinen Wahrheiten.

Natürlich gab es politischen Unterricht, politische Bildung, die mir aber „neutral“ erschien. Auch der Geschichtsunterricht speziell über die Nazizeit war nach meinem Kenntnisstand okay; er war bestätigt durch die Erfahrungen in der Familie. Daher hatte ich keinen Grund zu zweifeln. Dass mir meine Familie natürlich auch nur ihren Ausschnitt der Wahrheit vermitteln konnte, war mir nicht bewusst. Woher sollten sie die Rheinwiesenlager kennen, um ein Beispiel zu nennen?

Ich kann mich heute nicht mehr an Details des Unterrichts erinnern, aber an die „Botschaften“, die dahinterstanden. Die sind hängengeblieben. Und das, woran man sich erinnert, war wohl prägend.

Kurz gesagt: Die US-Amerikaner haben Europa zusammen mit Briten, Franzosen und Russen vor den Nazis gerettet, wobei die US-Amerikaner natürlich die führende Rolle hatten. Auch waren es die westlichen Alliierten nach dem Krieg, die mithalfen, den Schaden, der durch den Krieg der Nazis in Deutschland entstanden war, wieder zu beseitigen. Es war immer die großzügige Hilfe der westlichen Alliierten, die uns im Westen Deutschlands auf die Füße halfen. Da auch meine Familie nach der Befreiung durch die Briten aus dem KZ von den US-Amerikanern aufgepäppelt worden war, passte das gut zusammen — kein Grund, das irgendwie in Zweifel zu ziehen.

Dass Russland im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verlor, die US-Amerikaner weniger als 500.000: DAS kam in meinem Bewusstsein nicht vor. Dort waren die westlichen Alliierten als die Retter verankert, die erhebliche Opfer bringen mussten, um „uns“ vor den deutschen Verbrechern zu retten.

Natürlich hatten die Russen im Krieg „mitgeholfen“, dem Nazi-Gräuel ein Ende zu setzen. Stalingrad war eines der herausragenden Themen, an das ich mich erinnere. Leningrad — die brutale deutsche Hungerblockade — kam im Unterricht nicht vor, obwohl über russische KZ-Opfer gesprochen wurde. Slawen und Juden waren Untermenschen, slawische Untermenschen, also russische Juden, die bevorzugten Mordopfer der Nazis.

Natürlich waren die Nazis die Verbrecher, natürlich waren alle okkupierten Länder Opfer … aber die Russen waren gleichzeitig auch üble Täter. Schließlich hatten russische Soldaten nicht nur Millionen von deutschen Frauen massiv vergewaltigt. Sie hatten auch die — armen — zivilen Deutschen aus den östlichen Ländern wie Polen, Tschechoslowakei und anderen Ländern grausam vertrieben und anschließend diese Länder, wie auch Ostdeutschland, brutal okkupiert und ausgeplündert.

Darüber hinaus verhinderten ja die bösen Russen, dass die armen Ostdeutschen frei reisen konnten. Letzteres wurde mir durch meine ostdeutsche Oma bestätigt, die gerne mal in den Westen gekommen wäre, aber aus irgendwelchen Gründen nicht durfte.

Es passte also gut zusammen: Das, was ich „lernte“, und das, was die eigene Familie erzählte, widersprach sich nicht. Warum sollte ich es bezweifeln?

Vergewaltigende Soldaten gab es bei den westlichen Alliierten natürlich nicht beziehungsweise nicht in nennenswertem Umfang. Zumindest wurde das so vermittelt. Die westlichen Soldaten waren eigentlich immer die Guten.

In jeder Beziehung. Dass diese positive Darstellen primär an der Vergabe den Medienlizenzen lag, wurde mir erst sehr viel später bewusst.

„Kritische“ Medien — wie kritisch waren sie wirklich?

Dass nicht nur die Untaten der westalliierten Soldaten, sondern auch andere wichtige Hintergrundinformationen fehlten, fiel nicht auf. Mir zumindest nicht. Lückenpresse ist viel schlimmer als Lügenpresse. Lügen kann man identifizieren, Lücken kaum. Denn es gab sowohl im TV als auch in den Printmedien zahllose kritische Berichte über die USA, nicht nur über Russland.

Auch die verschiedensten „linken“ Themen, wie zum Beispiel die Anti-AKW-Bewegung, die Demos gegen die NATO-Nachrüstung oder die Startbahn West, kamen in den Medien prominent vor; daher fühlte ich mich gut und breit informiert.

Natürlich war in Zeiten des kalten Krieges „der Russe“ der Hauptfeind. Und die DDR war noch schlimmer als die Russen, denn Deutsche haben ja die Tendenz, alles 110-prozentig zu machen. Auch den Kommunismus und die Verfolgung der Menschen.

Aber an ein simples „Putin ist an allem schuld, sogar am Wetter“ wie heute kann ich mich nicht erinnern. Im Gegenteil. Engagierte Journalisten — spontan fallen mir Klaus Bednarz von „Monitor“, Rudolf Augstein oder Günter Wallraff ein —, eine breite Berichterstattung, die sich kritisch gegen die USA, die NATO oder die westdeutsche Regierung äußerte, waren für mich Normalität.

Kriegsberichterstattung war meines Erachtens damals noch nicht „embedded“ — gerade beim Thema Vietnam kamen die USA gar nicht gut weg. Selbst Themen wie das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) oder die Berufsverbote aufgrund des Terroristenerlasses in den Hoch-Zeiten der Roten Armee Fraktion (RAF) wurden in den Medien kritisch diskutiert.

Der Spiegel wurde von den CDU-/CSU-Politikern gebrandmarkt; bei manchen TV-Sendungen schaltete der erzkonservative BR sogar ab; Dieter Hildebrand war ein scharfer Kritiker des Systems: Die ARD war also ein „kritischer“ Sender.

Der gesteuert Blick auf den Osten der Republik

Ganz anders als der berüchtigte „schwarze Kanal“, der mir so was von lächerlich erschien, wenn wir mal Ausschnitte vom DDR-Fernsehen gezeigt bekamen, waren unsere Nachrichten also aus meiner damaligen Sicht also „objektiv“ und „ehrlich“.

Heute kann ich diese Begriffe nur noch mit „“ versehen, denn ich bin sicher, dass wir damals auch nur einen Ausschnitt der Wahrheit gezeigt bekamen; nur war dieser Ausschnitt wohl noch deutlich größer als heute. Schließlich wollte sich der Westen gegenüber seinen Bürgern und insbesondere den Menschen im Osten ja als das „bessere System“ präsentieren.

Ganz klare Propaganda waren die Hollywood-Produktionen. Der böse russische Spion, der vom US-amerikanischen Helden besiegt werden muss, um die Welt zu retten. Das war für alle offensichtlich. Aber steter Tropfen höhlt bekanntlich den Stein — und gerade diese Form der Beeinflussung lief ganz subtil durch die Intensität der Wiederholung.

Auch wenn es „nur“ Fiktion war: In allen Filmen war klar, wer gut und wer böse ist …

Hohenschönhausen, die Mauer, inoffizielle Mitarbeiter, die Stasi, die mangelnde Reisefreiheit: Alles das gab es. Und es gab da ja auch die prominenten DDR-Dissidenten und -Exilanten — ob Rudolf Bahro, Manfred Krug oder Wolf Biermann —, die die medial aufbereiteten Vorurteile bestätigten. Und die Mauertoten und die zahllosen Flüchtlinge, die dem „Unrechtsstaat“ nur mit viel Aufwand „entkommen“ konnten … es passte alles ins Bild.

Ein Gegengewicht zu diesem einseitigen Bild über den Osten? Fehlanzeige. Die DKP, also die deutsche kommunistische Partei, war so dogmatisch, autoritär, indoktriniert und militant, dass sie mich total abstieß. Die Parteimitglieder hatten die „einzig wahre Wahrheit“ gepachtet, selbst denken schien in diesen Kreisen nicht erlaubt. Wer von der Parteilinie abwich, war „persona non grata“, so zumindest mein Eindruck. Und wenn ich mir heute die verschiedenen linken Parteien und Organisationen anschaue, die sich untereinander bis auf Blut bekämpfen, weil eben jede die einzige Wahrheit besitzt und die sich „wesentlich“ von der anderer linken Parteien unterscheidet, dann glaube ich nicht, dass mich mein Gedächtnis trügt.

Was war damals Wahrheit und was Propaganda?

Im Nachhinein hat sich so vieles, was ich gelernt, gehört, gelesen habe, als falsch beziehungsweise zumindest verfälscht erwiesen, dass ich mir eines jetzt sicher bin:

Es gab definitiv Propaganda im Westen. Nur wusste ich als Wessi eben nicht, dass beziehungsweise wie weit ich belogen werde. Ossis wussten es, da waren sie mir voraus, denn es gab ja Westfernsehen, das den Menschen in der DDR eine andere Welt präsentierte, als ihnen vom schwarzen Kanal geboten wurde.

Wir im Westen hatten kein „Ostfernsehen“, sodass ich die unterschiedlichen Blickwinkel nicht selbst abgleichen konnte.

Ich habe meine Lektion gelernt. Das eigene Weltbild über den Haufen werfen zu müssen war schmerzhaft. Viele Menschen im Westen hängen noch an ihrem Erlebten und dem, was man ihnen vermittelt hat. Das erklärt vielleicht, dass ich heute viel mehr kritische Menschen aus Ostdeutschland als aus Westdeutschland zu meinem politischen Bekanntenkreis zähle.


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